Ein Beispiel von Jorge Bucay
Um mal ein reales Beispiel für die Zwiespältigkeit, die beiden Aspekte in Konkurrenz zueinander zu geben, taugt vielleicht eine Geschichte von Jorge Bucay, die vielleicht der eine oder andere kennt:
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Es gab da einmal ein kleines Haus, fast ein kleiner Bauernhof, außerhalb der Stadt. Im vorderen Teil war eine bescheidene Werkstatt mit Maschinen und Werkzeug eingerichtet, im hinteren befanden sich zwei Zimmer, eine Küche und ein provisorisches Bad.
Joaquin hatte jedoch keinen Grund, sich zu beklagen.
Während der letzten beiden Jahre war die Tischlerwerkstatt "Numero Sieben" stadtbekannt geworden, und Joaquin verdiente genügend Geld, um nicht auf seine knappen ersparnisse zurückgriefen zu müssen.
An diesem Morgen stand er wie immer um halb sieben auf, um den Sonnenaufgang zu betrachten, Allerdings führte ihn sein Gang heite nicht wie üblich bis zum See, denn auf dem Weg dorthin, gerade einmal zweihundert Meter von seinem Haus entfernt, stolperte er fast über den zerschundenen Körper eines jungen Mannes.
Rasch kniete er sich nieder und legte sein Ohr an dessen Brust...Ganz tief im Inneren hörte er ein Herz pochen, das sich mühte, den Rest von Leben zu erhalten, der in diesem schmutzigen und nach Blut, Dreck und Alkohol riechenden Körper noch vorhanden war.
Joaquin ging eine Schubkarre holen, in der er den Mann transportierte. Zu Hause angekommen, legte er den Körper auf sein Bett, schnitt die zerfetzten Kleider auf und wusch ihn behutsam mit Wasser, Seife und Alkohol.
Nicht nur daß der Junge betrunken war, er war auch übel zugerichtet worden. Er hatte Schnittwunden an den Händen und auf dem Rücken, und sein rehtes Bein war gebrochen.
Während der nächsten beiden Tage widmete sich Joaquin der Genesung seines unerwarteten Gastes: Er salbte und verband seine Wunden, schiente das Bein und fütterte ihn löffelweise mit Hühnerbrühe.
Als der Junge erwachte, saß Joaquin anseinem Bett und betrachtete ihn fürsorglich und liebevoll.
"Wie geht es dir?" fragte Joaquin.
"Gut...,glaube ich", antwortete der Junge und besah sich seinen wiederhergestellten Körper. "Wer hat sich meiner angenommen?"
"Ich."
"Warum?"
"Du warst verletzt."
"Nur deshalb?"
"Nein, auch weil ich ein bisschen Hilfe gebrauchen könnte."
Und beide lachten herzlich.
Gesunde Ernährung, viel Schlaf und Alkoholverzicht brachten Manuel, so hieß der junge Mann, schnell wieder auf die Beine.
Joaquin lag daran, ihn in sein Handwerk einzuweisen, und Manuel war daran gelegen, sich nach Möglichkeit vor der Arbeit zu drücken. Immer wieder versuchte Joaquin jenem vom ausschweifenden Leben mitgenommenen Geist die Vorzüge einer sicheren Arbeit, eines guten Rufes und eines soliden Lebenswandels einzutrichtern. Immer wieder schien Manuel verstanden zu haben, kam aber über kurz oder lang morgens nicht mehr aus dem Bett und vernachlässigte die Pflichten, mit denen Joaquin ihn betraut hatte.
Die Monate vergingen, und Manuel war mittlerweile vollkommen genesen. Joaquin hatte Manuel das große Zimmer überlassen, eine Teilhaberschaft im Geschäft und den morgentlichen Vortritt im Bad. Im Gegenzug musste der Junge versprechen, sich ganz und gar auf die Arbeit zu konzentrieren.
Eines Nachts, während Joaquin bereits schlief, entschied Manuel, sechs Monate Alkoholverzicht seien genug und ein Gläschen im Dorf könne ihm schon nicht schaden. Für den Fall, daß Joaquin in der nacht aufwachte, versperrte er seine Zimmertür von innen und verließ das Haus durchs Fenster. Die Kerze im Zimmer hatte er brennen lassen, um ihn in dem Glauben zu wiegen, er sei da.
Auf das erste Gläschen folgte das zweite, und darauf das dritte, das vierte und viele andere...
Als die Feuerwehr unter Sirenengeheul an der Bar vorbeiraste, stimmte er gerade mit seinen Zechkumpanen ein Trinklied an. Manuel maß dem Aufruhr keine Bedeutung bei, bis er im Morgengrauen torkelnd zuhause eintraf und die Leute auf der Strasse versammelt sah.
Nur ein zwei Wände, die Maschinen und ein paar Werkzeuge hatten den Brand überstanden. Von Joaquin fand man nichts weiter als vier oder fünf versengte Knochen, die man ihm Friedof unter einem Stein begrub, in den Manuel das folgende Epitaph einmeißeln ließ:
"ICH WERDE ES TUN, JOAQUIN, GANZ SICHER, ICH TU'S"
Mit viel Mühe baute Manuel die Tischlerei wieder auf. Er war faul, aber geschickt, und das, was er von Joaquin gelernt hatte, half ihm sehr, das Geschäft schnell voranzubringen.
Von irgendeinem Ort aus, das spürte er, ruhte Joaquins ermutigendes Auge auf ihm. Manuel gedachte seiner bei jedem freudigen Anlaß: bei seiner Hochzeit, bei der Geburt seines ersten Sohnes, beim Kauf des ersten Autos...
Fünfhundert Kilometer entfernt, fragte sich Joaquin, putzmunter und lebendig, ob es zulässig gewesen sei, zu lügen, zu betrügen und Feuer an das schöne haus zu legen, nur um diesen jungen Mann zu retten.
Er kam zu dem Schluß, daß es das war, und lachte sich ins Fäustchen bei dem Gedanken daran, daß die Ortspolizei Schweineknochen für seine sterblichen Überreste gehalten hatte.
Seine neue Tischlerei war ein bisschen bescheidener ausgestattet als die erste, aber bereits bekannt bei den Leuten im Ort. Sie hieß "Nummero Acht"
Jorge Bucay