Kleine Abhandlung zu diesem Thema, Überspitzung und Provokation beabsichtigt, ich bin schon neugierig auf die Antworten ;-)
Dieses Dogma hält sich besonders hartnäckig und bekommt heute sogar wieder neue Nahrung z.B. durch die Purity-Bewegung aus den USA. Tatsächlich basiert es wohl eher auf männlichen Macht- und Besitzansprüchen, manifestiert u.A. in den "Regelwerken" der diversen Weltreligionen, s. z.B. die zehn Gebote: "Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib", und ist "dank" der Allgegenwart von Religion sehr tief verankert im menschlichen Denken. Deshalb führt allein schon eine Infragestellung dieses Konzepts in 99% der Fälle zu heftigster, fast schon militanter, Ablehnung.
Natürlich hat jeder Mensch das Bedürfnis nach Geborgenheit, Sicherheit und Verbindlichkeit, wogegen ja prinzipiell auch nichts einzuwenden ist, ist dies doch die Grundlage einer jeden zwischenmenschlichen Beziehung. Zu beanstanden ist jedoch die eng gefasste Definition des Begriffs Treue, im Sinne von Ausschließlichkeit, Exklusivität. Und seltsamesweise bezieht sich das im Normalfall nur auf sexuelle / romantische Handlungen, es ist weiterhin "gestattet" (= gesellschaftlich anerkannt) viele, auch enge, Freundschaften zu unterhalten. Dass dies vollkommen der menschlichen Natur zuwiderläuft, belegen eindrucksvoll die hohen Scheidungs- und Fremdgehraten (zu letzteren gibt es zahllose Umfragen).
Es wäre also im Sinne der Vernunft, sich um eine andere Definition für Treue zu bemühen. Denkbar wäre z.B. etwas in Richtung Loyalität, "zu seinem Partner stehen". Er / Sie muss sich auf mich verlassen können und dasselbe gilt natürlich auch umgekehrt, vor allem "in schlechten Zeiten", wie es immer so schön heißt. Dies würde auch mit der Definition einhergehen, welche in allen anderen Bereichen üblich ist, z.B. die Kundentreue. Ganz sicher ist dies kein Plädoyer dafür, ohne Rücksicht auf Verluste (und womöglich noch ungeschützt) mit jedem Sex zu haben, der einem über den Weg läuft. Das Hauptaugenmerk sollte auch weiterhin auf den sozialen Bindungen liegen, welche bei gegenseitigem Einverständnis - auch der beteiligten, primären Partner - sexuelle Handlungen nicht zwingend und unbedingt ausschließen, so wie es bei der exklusiven Monogamie der Fall ist. Natürlich schließt dies die Existenz reiner Sexfreundschaften nicht aus: wichtig ist aber, dass alle Beteiligten offen zu verstehen geben, woran die jeweils anderen sind. Ein verheirateter Mann sollte also einer potenziellen Intimpartnerin gegenüber - nur um sie ins Bett zu kriegen - auf gar keinen Fall vorgeben er liebe Sie über alles und werde sich von seiner Frau scheiden lassen. Das wäre dann tatsächlich Betrug und falsches Spiel und ethisch ganz klar abzulehnen.
Traurig ist aber vor allem dieses: nur weil man gerne mal mit jemandem anderen, den man gern hat intim werden würde, "muss" man (laut herrschendem Gesellschaftsverständnis) zunächst die bestehende Beziehung aufgeben. So als ob plötzlich nichts mehr von dem, was man für seinen Partner empfindet existent wäre, als wäre es in Ordnung Gemeinsames von vielleicht mehreren Jahren Beziehung einfach so in die Tonne zu kippen. Im Großen und Ganzen also das Prinzip der seriellen Monogamie, welche ja auch ein absoluter Normalfall und gesellschaftlich anerkannt ist. Dieses Konzept ist jedoch - wenn man es näher betrachtet - in höchstem Maße unethisch: man opfert - nur weil es die Gesellschaft so will - eine wertvolle soziale Bindung für die Freude am "unbekannten Sex".